Ich wurde
geboren am Ort einer geteilten Wahrheit. Aufgewachsen in Wärme, behütet eingeschult und als Soldat vereidigt. Beruf, Arbeit, Studium. Auf Linie gepolt. Meine frühesten Erinnerungen sind an eine Nachkriegsgeneration gebunden. Es wurde aufgegessen, Socken gestopft und einmal in der Woche in einer Zinkwanne gebadet. Das mühsam erwärmte Wasser musste für drei Personen reichen. Kein schwerer Tag für die Familie, aber der Wille sich etwas mehr Komfort zu erarbeiten war spürbar. Der erste Fernseher flimmerte in Schwarzweiß. Ein Programm. Später ein Zweites. Die halbe Welt in der Hütte. Der Sandmann kleistert die Augen zu. Ansonsten Rauschen.
In der ideologischen Doktrin wurde den bürgerlich nassen Wohnungen der Kampf angesagt. So auch der Wohnung meiner Mutter. Der Plan war Ziffer und genormte Bauten mit Bad und WC quollen aus dem Boden. „Bau auf, bau auf, Freie Jugend bau auf““. Auch ich erlernte das Singen. Sich einzurichten in der sozialistischen Heimat, hatte Vorrang. Warmes Wasser aus der Wand. Zentrale Wärme. Mutter war glücklich.
In diesem Staat wurde das Wissen von einer Ideologie siegreicher Bilder bestimmt. Das Maß der Posen regelten ergraute Führer. Gegenfragen wurden getadelt, normiertes Denken mit blechernen Orden belohnt.
Später,
im Bruch der Geschichte, entfernten die Sieger den wertlosen Schmuck und ersetzten gescheiterte Helden durch neue Ikonen. Es verblasten die Bilder begrenzter Wege und forderten auf zum mündigen Denken. In diesem Wechsel der Weltsicht verschwanden die Motive siegreicher Momente. Mühsam erschaffener Luxus zerfiel zu Staub. Symbole vermeintlichen Wohlstands und Stolz wurden aus dem Alltag verbannt. 1990 sind die Grenzen offen. Trabanten jagen in den Westen. Stinkend dünstet sich der Osten über blühende Landschaften. Eine Idee keimt hervor; alle Zweitakter an den Checkpoints zwangszuparken und den unaufhaltsamen Ossis, eine Netzkarte der Bundesbahn zu geben. Ein treffliches Beispiel, sich dem schmuddeligen Bruder vom Hals zu halten – „Haxen abraxen“.
Kultur und Kunst
wurde streng betreut und staatstragend bestimmt. Meine geschickte Hand, welche in flüssiger Linie und dynamischer Pinselführung, wie früh ein Dozent meinte, bestimmte, dass ich Künstler werden wollte. Zum Studium zugelassen wurde aber klar, dass Kunst realistisch wie ein Wegweiser im Straßenverkehr funktioniert. Auf Parteitagen beschlossen und im „Bitterfelder Weg“ formuliert, öffneten sich für die freie Kunst nur wenige Spielräume.
Vom Weg „verirrte“ Künstlerseelen wurden auf Staatskosten beäugt, gemahnt und bald aus dem Paradies vertrieben. Eine ganze Generation von experimentierfreudigen Malern nabelte sich in die freie Wirtschaft ab. Der Rest klebte auf der Matrix, lebte, malte, wohnte, liebte unerkannt in einem Becken aus Gelee. Weiterdenken war tabu, wollte man nicht von diesem Monolithen fallen.
Das System ist alles. Der Mensch nichts …
Eine kleine Vita des Gegendokumentarischen
Mein Sichten und Aufspüren von Brüchen in der Geschichte und in den Archiven entwerteter Erinnerungen, sind Basis früher Arbeiten als Dokumentararchäologe und bestimmen bis heute die Methoden meines kreativen Denkens.
Dokumentararchäologie, Teil der Gegendokumentation sind Praktiken, die sich als Alternative zu etablierten Formen der Wirklichkeitserfassung zu Wort melden. Der Versuch, anders zu dokumentieren, erfordert eine Auseinandersetzung mit den institutionellen und medialen Rahmenbedingungen. Fragt nach den verschiedenen Möglichkeiten, den dokumentarischen Spielraum auf Methoden des Fiktiven oder Spekulativen zu erweitern. Neue Räume zu besetzen, Hinterfragung bestehender Institutionen bzw. neue „Zentralen“ zu erschaffen.
Geburt 1962
Matthias „BAADER“ Holst
In „Das Desinteresse“, Teil drei, „Schuld der Bücher“, schreibt sich der spätere Büchner Preisträger, „Sh.HAPPY“, Peter Wawerzinek, seine Erinnerungen an „BAADER“ von der Seele. Da sind Zwei, vom Weg geschuppste Einzelgänger. Beide marodieren durch die Stätten der Provinz. Aus ihren Katapulten schleudern sie Wortgewitter über das Publikum. „traurig wie hans moser im sperma weinholds“. Grabenkämpfe. Ja der Weinhold, ein Grenzsoldat, Überläufer. Einer, der zwei seiner NVA-Kameraden auf der Flucht mit der Kalaschnikow massakriert. Und Hans Moser im Sperma, erklärt sich selbst. „BAADERSs Glücksstation ist eine Hallenser Bibliothek“, schreibt Sh.HAPPY. „Der Job als Bibliothekar wird seine (BAADERs) Abschottung. Die illegale Benutzung des Giftschranks wird sein Insiderwissen. Er verschlingt verbotene Schriften. Serbische Wahlaufrufe. Russische Kampfansagen. Sexualtheorien aus Österreich. Europäische Waffengänge. Lateinamerikanische Kriegsschauplätze. Militärgeheimnisse unter den Italienern. Ungewohnte Fassungen und Entwürfe. Alles her! Wovon kaum wer was weiß. Das volle geheime Wissen zu Staat und Rasse, Leben und Glück“. Der BAADER lebt nur noch im Schatten der Bücher, entäußert sich, vegetiert in Isolation. Ist nur noch Buchwissen. Blass, durchleuchtend. „BAADER musste“, schreibt W. „sich aus jeder Zwangsjacke befreien, um befreit zu scheitern“ Auf in den Kampf.
Im Schützengraben begegne ich den Beiden. Irgendwo. Es entstehen wildgebundene Bücher, Krakel auf Papier und ein Film. „BAADER in Leipzig“. Ein aus der Hand gedrehtes Super-8-Stück, drei Minuten ohne Schnitt. Ein Spaziergang vom Bahnhof der Messestadt bis zur Hochschule der Kunst. Beim ersten Synchronisieren rotzt Baader gleich die bleibende Version aufs Band. Fertig. Wohin nur mit der Sprachgewalt? Nur noch wenige Wochen Zeit. BAADER ahnt den frühen Tod. Rammt Er oder Sie, die Tram, den Todgeweihten. „Schönheit gibt es nur im Kampf“ Marinettis Kampfansage der Futuristen, später in leicht sächselnder Abwandlung von Herrn Ulbricht missbraucht, sieht einen Ritter fallen. In missglückter Gestalt, ohne Unterwäsche, in *A.R.Penck*-Schuhen, kein Ausweis anbei, Kahlgeschoren, liegt der Dichter in der Notaufnahme. So richtig kümmert sich Niemand um den Niemand. Es ist die Nacht, an dem die Ostmark den Besitzer wechselt – Das Quälen hat ein Ende…
Super-8-Film: BAADER in Leipzig 1989
BAADER lebt außerhalb der Zeit. Für ihn existiert keine DDR, keine Zone. Hineingebeamt in den realen Sozialismus, grüßt er im Film donnernd die Stadt des Absurden. „Oberleutnant Baader“ gibt am Bahnhof das Kommando zur „Eroberung der Westhalle“, schleckt in „A.R.Penck*-Schuhen“ ein Eis und möchte sein wie der „Wasserwerfer *Johann Sebastian Bach“. Der sonnenbestrahlte *Karl-Marx*-Platz ist der Höhepunkt seiner Stadtführung. Im Brunnen sprudelt Wasser. Für Baader ein Menetekel „Die letzte Bastion, die wir einreißen werden, wenn wir erkennen, dass dieser Brunnen kein Wasser mehr gibt“. Sein Rundgang endet im Irrgarten der Künste. Am Ort des Wiederstandes Rückzug. Baader schließt hinter sich die Tür – lässt die Kamera im Stich. Die Kamera entweicht im Nichts.
Im Film ziert ihn kurz ein entwürdigender Kopfschmuck. Mit abstehenden Ohren und Dackelblick schaut er in die Kamera. Vielleicht ist er selbst „der Hälse wendende“ Poet? Er weiß es nicht.
Ich vermisse Baader heute mehr denn je – er hauchte den Orten und Gegenständen einer missvergnüglichen Staatsbürgerkunde kreative Dynamik ein. Er konnotierte genial den Zustand eines Systems und würde dies mit seiner Sprachgewalt im heutigen Deutschland immer noch tun.
Qual durchstehen. Nebenher kreativ werden. Kleine, ganz persönliche Kunstwerke schaffen. Mehr geht nicht. Weniger ist nicht zu vollbringen.
Nur wenigen gelang es in den 90iger Jahren, nach den Jahren der missglückten Sozialisierung im Arbeiterstaat, ohne Schere im Kopf zu denken – Klärendes, enteignet des Gegners, frei zu kreieren. Auch ohne die holterdiepolter entschwundenen Parteisoldaten in den Ämtern, stören ihre übelriechenden Duftmarken noch immer. Leicht zu enttarnen, in ihrer muffigen Fleischlichkeit, stehen sie trotzig im Weg. Wie Kinder, denen ihre Spielzeuge weggenommen wurden.
Auf dem Surrogat künstlerischer Improvisation vergangener Grenzgänge, wurzeln dennoch neue Gehversuche. 1990, als einer von Millionen Kaspar Hausers aus der erstickenden Umarmung entlassen, tauchte auch ich aus dem Nichts, in Nürnberg auf dem Unschlittplatz auf. Ähnlich dem späteren Kind Europas, halte auch ich einen Zettel in der Hand. Aber entgegen dem Findelkind, ist meine Herkunft klarer positioniert. Scheinbar weiß jeder in der Stadt wer ICH bin und woher ICH komme. Nur ICH weiß wenig, zu ungenau ist meine Lage. Zu unbestimmt die ererbte Herkunft. Die neuen Arbeiten sind teils suggestiv, teils körperlich an einen entwerteten Nachlass gebunden. Im Spiegel sehe ich den HEROLD und versuche tastend die Reflexion zu umgehen, ohne auf das Dahinter zu schauen. Mich aber bindet das Glas, der Träger des spiegelnden Etwas. Das Surrogat. Das sorgfältige Rekonstruieren verlassener Landschaften.
Letztendlich bemerke ich, muss mir das Spiegeln egal sein. Zu viele doppelte Bilder müssen getrennt werden. Systeme neu geordnet, Archive betreut, Kartelle gezähmt. Zu viel fremdverursachtes Selbsterklären benebelt den Blick. Zu viel, zu viel, nicht meins. Dies überlasse ich den Fleißigen. Die Matrix kann auch ohne mich denken.
Dennoch spüre ich, an meiner Geschichte haftet Gelatine auf gläserner Zeit. Bilder, die nur ICH beschreiben kann. Dokumentarismen. Als Maler, spreche ich in Bildern. Ich hoffe es zumindest. Auch wenn Bilder und Schrift nicht so einfach zu substituieren sind, leben sie doch gemeinsam, in einem Raum fundamentaler Uneinigkeit. In „Die Ordnung der Dinge“ formuliert Herr Foucault die Qual, das Sehen zu beschreiben, wie folgt: „Was man sehen kann, vermag man häufig nicht zu sagen, und was man in Bildern zeigt, erreicht oft nicht, was man sagen will“. Dennoch versuche ICH, muss ICH in Bildern sprechen. Bilder, im Sinne Warburgs, auf „Wanderung“ schicken. Bilder als „Bildfahrzeuge“, als Zeichen sprechen zu lassen. Zeichen, welche als binärer Diskurs in den Kategorien Identität oder Entwertung rhythmisch hin und her Switchen, ohne geschwätzig zu sein. Zeichen also, welche Manifesten misstrauen.
Im Osten zum Misanthropen erzogen, folgt, im Westen verzweifeln. Die Welt nun offen, wäre Reisen schön, wenn man nicht ankommen muss. Aus ferner Nähe bewundere ich die formwandlerische Spezies der Heiner Müllers. In allen Quadranten zu Hause, und überall voll gewaltiger Worte. Ich bewundere die Wolfgang Hilbigs, diejenigen, welche entwurzelt umhertreiben und nur durch ständige Kopfarbeit überleben können. Sie scheinen zu Hause im Numinosen. Gesammelte Kraft aus dem Selbst. Ich bewundere die Radikalität der Mathias „BAADER“ Holsts, Sein im ICH, klardenkend, sich an keine Masse bindend, frei im Raum schwebend. Am Selbst reiben. Drei klärende Denker aus drei gescheiterten Generationen, welche mir Maaß meines Weges sind. Auch ICH muss meine Klarheiten im Scheitern finden. Hier und jetzt, in Schichten der Zeit. Positionen bestimmen, Worte zu Bildern formen. Misstrauen denen, die Macht missbrauchen. Die Schuld liegt bei den „vergifteten Büchern“. Ihrer sei Dank.
Geburt 1929
Heiner Müller
schrieb in seinem Stück „Die Hamletmaschine“: “Meine Gedanken sind Wunden in meinem Gehirn“. H. war ein ungeerdeter Star weit über die Grenzen der ehemaligen DDR hinaus. Ein gesamtdeutscher Export-Artikel. Ein Ästhet, Wortführer und kluger Interviewpartner. „Ein großer Einsamer auf weiter deutscher Flur“, „kein Jammerlappen realsozialistischer Nostalgie“. „Wir schießen alle aus der Hüfte, und etwas auszurichten heißt in der Kunst, etwas hinzurichten, zuerst sich selber“, schrieb Müller 1979 lakonisch.
Das Spiel heißt Räuber und Gendarm Das Spiel
Hat Regeln Regel Nummer Eins ist Eine
Hand wäscht die andre Und den will ich sehn
Der sich die Hände wäscht mit einer Hand
Kurz Räuber und Gendarm sind eine dia
Lektische Einheit Unser täglich Brot
Ist das Delikt Mord unser Sonntagskuchen
Der Staat ist eine Mühle die muss mahlen
Der Staat braucht Feinde wie die Mühle Korn braucht
Der Staat der keinen Feind hat ist kein Staat mehr
Ein Königreich für einen Staatsfeind
Heiner Müller „Ein Königreich für einen Staatsfeind“
Geburt 1941
Wolfgang Hilbig
Sein Deckname im ICH-Roman ist C. C. wie Cambert. C. hat einen Auftrag. Selbst Dichter, muss er einen Schreiberling beschatten. Ein uneinsichtiges Subjekt, vielleicht. Einer wie der, die nicht hören wollen, vielleicht. Nur Schatten sein ist schwierig, will gelernt sein. „Immer der Nase nach“, befehligt der erfahrene Führungsoffizier Feuerbach seinen Observer durchs System. Aber C´s. Schreiberling ist sonderlich absonderlich. Ein glitschiges Subjekt im Szenebecken der Autoren. Wendig, wenig fasslich. Was C. noch nicht weiß, sein Autor ist genau wie er ein Spitzel. Nur besser.
„Wer die Gruppe nötig hat, sucht aus ihr hervorzustechen, sich über sie zu erheben. Die da in Berlin in Szene
und in Gruppe waren, haben zugelassen, dass sich Einzelne auf ihren Rücken in Höhe geschwungen haben.
Auf den Leibern der anderen Gruppenmitglieder hat nur der Szenekönig selbst getanzt, sich ausgetobt.“
Peter „Sc.HAPPY“ Wawerzinek
ICH auf der Suche nach der Wirklichkeit an Orten gefrorener Zeit
oder
Gedanken eines Orientierungsläufers
„ICH“, ein biografisches Stück Zeitgeschichte. Der Autor; Wolfgang Hilbig, im Osten, im Krieg geboren. Übersiedlung in den Westen 1985. Im Jahr 1993 veröffentlicht er „ICH“ … „mit Abstand endlich schreiben können, die wirren Jahre im Gelee“. Später, in einem Brief an den Autor, erwartet der im Roman gespiegelte Dichter G, enttarnt als IM Gerlach, von H. Gesprächsbereitschaft, ansonsten will keiner „mit so einem“ reden. Hilbig verweigert sich, meint aber „Im Grunde genommen waren es aber doch Opfer, die Spitzel“.
Im Roman aber liest der inoffiziell Mitarbeitende noch sorglos der Enttarnung in den Katakomben vor einer geheimen Öffentlichkeit. G. liest überall. Er liest hier, liest da, immer mit monotoner Stimme. Nur das letzte Wort im letzten Satz klingt düster nach. G. kennt den Untergrund, kennt alle Gänge unter den Häusern Ost-Berlins. C, **das „ICH“ in der Geschichte, kann nicht immer folgen. Er muss Abstand halten. Verliert die Spur. Dann wird es schwer … „Immer der Nase nach“. Aber alles dünstet gleich. Es riecht nach Kohl und Kohle. Nach Mauerblüte und Rost. Oft quellen modrige Gänge über mit Salpeter. Weißes Salz, das unter rissiger Ölfarbe ausblüht und unermüdlich in die Tiefe rieselt. Ein reines Weiß, dass sich auf die feuchten Pfade legt. Schwer sich in diesem Schnee zu orientieren. Wie unter Zucker in glatter Landschaft sind plötzlich Linien, denen C. bisher noch folgen konnte, auf dem Radar verschwunden. In diesem Nebel kann er nur noch tasten, versinkt in körperwarmer Gelatine.
„Fortan“, schreibt Hilbig, „lebt C. in einer Welt der Vorstellung … immer wieder geschah es, dass ihm die Wirklichkeit fantastisch wurde, irregulär, und von einem Augenblick zum andern bestand die Ruhe für ihn in einer unwahrscheinlich haltbaren Simulation.“
C. leidet still in seiner Stube, seinem Keller, mit dem in Beton geritzten Phallus an der Wand. Wuchtig gemeißelt und mit dokumentenechter Tinte finalisiert. „Keine Ahnung, was die Skizze hier zu suchen hatte; es war mir dazu höchstens ein Begriff von Baudrillard eingefallen: l e e r e S i g n i f i k a n z … “. Im Roman lässt Hilbig seinen Protagonisten im Anti-Diskurs des Zeichens auf der Matrix kleben. Ohne Aussicht auf Erlösung. Aber so betäubt, kann er den C, genannt Cambert, endlich denken lassen.
Die Wahrheit liegt im Bild und lässt Nietzsche sprechen: „aus der Gleichheit und Vergleichbarkeit der Dinge unsere eigene Gleichheit und Vergleichbarkeit der Dinge unsere eigene Gleichheit und Vergleichbarkeit mit uns selbst zu gewinnen, uns als jenen archimedischen Punkt zu finden und zu erfinden, von dem her sich die Welt nicht aus den Angeln heben, sondern in sie einklinken lässt“.
Wie singt das Rätsel? Was singt das Rätsel?
Hilbig aus ICH
Verwirrend, aber nur so kann er sich vielleicht befreien, denkt C, er muss diesen Punkt finden. Er muss das Trugbild unterwandern, sich neu erfinden, um in der Wirklichkeit zu ankern. Er muss sein Ohr von der Masse reißen, um sich selbst zu hören.
C. atmet tief. C. schwitzt. Er dünstet Worte aus und kotzt sie auf Papier. Nichts bleibt mehr in ihm. Er ist leer. Zu lang hat er dem Volk aufs Maul geschaut und alles geschluckt. Jetzt rächt sich der Pöbel, quillt auf, formt sich zum Palimpsest. Schrift auf Schrift, gewaschen gespült wieder und wieder mit Zeichen bekritzelt.
Fest auf seinen Monolithen genagelt, konspiriert er gegen sich selbst. Er fragt sich: Wer soll das alles lesen? All die verpflichtende Lektüre, die gestohlenen Worte? All diese Zeilen von Nichts? Und unter tausend Schichten quellen wieder und wieder neue Worte hervor die alles überrennen, wie rausgelassene Sauen?
Feuerbach, der Führungsoffizier, hatte einen harten Ton in der Stimme …
wissen Sie, was sie machen, mein Lieber,
Sie dichten! …
Aber Sie machen das schlecht!
Hilbig aus ICH
„C. konnte seine Texte nicht mehr sehen, sie waren zweitrangig, damit hatte Feuerbach völlig Recht. Die Texte waren mittelmäßig … wenn sie wenigstens schlecht gewesen wären, die Presse hätte sich drauf gestürzt. Aber die Presse … besonders die Westpresse! … liebte das Mittelmäßige“ Hilbig aus ICH
Erst einmal … Wo bin ICH?
Als Wolfgang Hilbig 1993 seinen Roman „ICH“, mit C. als Orientierungsläufer, veröffentlicht, sind drei Jahre Grenzfall vergangen. Deutschland ist wieder ganz Torte. Nun langsam kann der Blick zurück Worte fassen und ganze Sätze bilden. Wie aber war die Zeit in der Simulation von Wirklichkeit? Wie sah es aus, dass ICH vor und hinter den Spiegeln?
„Abwesenheit“ hieß H.s früher Lyrikband. 1979 erscheint er nicht dort, wo es geschrieben wurde. Zu unruhig sind die Zeichen seiner Verweigerung. Samuel Fischers Verlag nimmt sich seiner an und wird im Westen eine Entdeckung. Dort hoffen die Intellektuellen noch immer mit Brecht auf den lesend-schreibenden Arbeiter. Ein Treffer. Voll mit politischen Anspielungen, authentisch, zumal von einem Heizer am Herd des Proletariats. Eigentlich müsste der Osten stolz sein, auf seinen lupenreinen Proletarier. Ist er aber nicht. „Wie lange noch wird unsere Abwesenheit geduldet / Keiner bemerkt, wie schwarz wir angefüllt sind / Wie wir in uns selbst verkrochen sind / In unsere schwärze“ denkt Hilbig. „Seine stille Revolte jedenfalls geht über alles hinaus, was wir in den letzten Jahren in der westdeutschen Lyrik vernommen haben“ Monika Jäger 1979
Erst einmal: „Die Sprache der Literatur kann“, so H, „keine Aufgaben für die Gesellschaft lösen; sie kann ihr aber ihre noch ungelösten Aufgaben stellen. Nicht im Raum aber in der Zeit“.
Im Roman „ICH“ gibt es keine Wirklichkeit. Die Zeit war eingefroren. Das Denken erstarrt. Niemand weiß, WIE, WO noch WAS die Wirklichkeit ist. Alles ist Simulation. Die Wörter „noch“ und „schon“ drücken diese Crux aus… schreibt H.
Genauer: … „Die Wörter >noch< und >schon< drücken diese Crux aus … konnte aus der Simulation die Wirklichkeit werden, und wo war der Übergang? Konnte, was noch Simulation war, schon in Wirklichkeit übergegangen sein, bevor wir es aufgeklärt hatten? Konnte Simulation Wirklichkeit werden, konnte uns die Wirklichkeit mit Simulation antworten. Wenn wir dies bejahen mussten, waren wir wahrscheinlich verloren … also durften wir es gar nicht glauben.
Der Augenblick der Wahrheit, wenn im Spiegel das Feindbild auftaucht.
Denn wer keinen Feind mehr hat, trifft ihn im Spiegel
denkt Hilbig
Der Ostmensch Hilbig will sich selbst erkennen. Sein Umfeld engt ihn ein. Zeugt in ihm nur einen harten Stuhl, so dass er kaum noch laufen kann. Jede Bewegung wird zum zähen tasten. Er muss sich Orten um zu leben.
Geburt 1929
Heiner Müller, Klassiker in Warteschleife, harrte lange im Irrealen des Staatsgebildes DDR aus, ohne genau zu wissen warum. Für M. war das Spiel die Wirklichkeit. Das Gefecht mit dem Gegner nur Theater. „Denn süß ist wohnen / Wo der Gedanke wohnt, entfernt von allem“. aus: Müllers Interpretation von Hölderlins „Ödipus Tyrann“, für Benno Besson „Denn süß ist es/Wo der Gedanke wohnt, entfernt von Übeln“
„In der DDR“, so schreibt er, „konnte Benjamins Traum vom Kommunismus als Befreiung der Toten nur parodiert werden, weil für die Überlebenden der doppelt besiegten Kommunistischen Partei die Macht zugleich ein Joch und ein Geschenk war. Der verordnete Antifaschismus war ein Totenkult. Eine ganze Bevölkerung wurde zu Gefangenen der Toten. Denn der Mauerbau war ein Versuch die Zeit anzuhalten. Ein Versuch der scheitern musste.“ „Kein Staat kann eine Bevölkerung gegen ihren Willen mehr als eine Generation lang in einen Wartesaal sperren, wo man die Züge auf dem Bildschirm vorbeifahren sieht, in die man nicht einsteigen darf.“
Natürlich Luxus für Herrn Müller. Ein Globalplayer aber mit fester Adresse im Panoptikum der Zeit zu leben, entfernt von allem. Ein klassischer Intellektueller, der die Analyse liebte und die Kraft für Worte fand, die Wirren der Zeit zu zähmen. Hilbig hingegen, ein Ideal an Arbeiter mit Feder in der Faust, war: „Ein im ‚Literaturbetrieb‘ wohlgelittener Mann, der immerhin 18 Literaturpreise erhielt, aber nichts von einem Intellektuellen an sich hatte … Er war umgänglich, zeigte seine Belesenheit kaum und hatte eine Boxernase. Weil er in seiner Jugend boxte.“ Matthias Biskupek.
Beide, Müller und Hilbig, im Spannungsfeld des sozialistischen Realismus lebend, erfassen meines Erachtens die Möglichkeit im Unmöglichen zu verweilen/wohnen/auszuharren, über Umwege, sehr präzise. Alle Kommentare zur DDR sind Narrative einer kulturellen Identität, sind glaubhafte, mit Zahlen belegte Chroniken verwaister Identitätskonstruktionen.
Müller im Gespräch mit *Hermann Theiße*n: „Das Geburtsdatum versteht sich von selbst. Ohne das gibt es keine anderen, aber das erste wichtige Datum ist 1933. Das zweite wichtige Datum ist 1945, das dritte ist 1953, das vierte 1961, das nächste 1968 und das nächste 1989. Das sind merkwürdigerweise alles historische Daten, die mit Geschichte zu tun haben, und das ist vielleicht das einzig Interessante an dem, was ich da versucht habe zu erzählen, die Verbindung einer Biografie mit der Geschichte eines Landes.“
Die Radikalkur misslingt. Der Osten überrennt den Westen der wirklichen Wirklichkeit entgegen. Schon ist das „noch“ und „schon“ im Realdiskurs, ostdeutscher Landessprache im Einheitswahn verblasst, als schon wieder Skepsis aufkommt. Das Fassliche von Wirklichkeit endschwindet. Im Suchen nach Gemeinsamkeiten werden erste Unterschiede definieren. Es gibt wohl zwei Wirklichkeiten. Entscheidend ist die Perspektive. Formen des Selbst werden missdeutet. Erfahrungen von Geschichte missverständlich formuliert. Vielleicht nutzen Beide nur einen falschen Code? Hier wird das Opfer geopfert da wird der Sieger besiegt. Es gilt erst einmal EINE Sprache zu finden. Codierungen zu entschlüsseln und zuzuhören.
Im Roman „ICH“, zeichnet der Autor Hilbig ein düsteres Ende. C. wird mit blankem Stahl in seiner Zelle vom Suff betäubten klebrigen Stasibüttel Feuerbach „mit hartem kaltem Stoße zwischen die Hinterbacken“ perforiert, um sich dann schluchzend an C. zu schmiegen. Ein wüstes durcheinander, wobei eine Glühbirne und C.s Darmöffnung Schaden nahm. Für das zerschlagene Leuchtmittel wurde er bei der Entlassung ohne Erklärung regresspflichtig gemacht. Für den Darm … .
Heiner Müller zog 1993 aus der Platte aus. Von 1979 an, im Mietvertrag der HOWOGE fixiert, wohnte M. im 14. Stock auf 166,27 Quadratmeter und zahlte 207,85 Mark Kaltmiete. Ganz oben, mit viel Übersicht auf (seine?) Neubauten Die HOWOGE gedenkt und würdigt ihren Sohn mit einer Tafel.
1993, das Jahr in dem Hilbigs Roman ICH erscheint und Müller aus der Platte zieht, steht Hilbigs Wohnhaus noch in Meuselwitz. 2005 wird es, trotz Proteste einiger Freunde, abgerissen.