Der Dokumentararchäologe im Arkadischen
Immer wieder Italien. Diese Begeisterung für Italien. Alle sind sie da gewesen. All die teutonischen Geistesgrößen. Es scheint, als sei ein betreten der Erde Italiens Voraussetzung für eine Präexistenz deutscher Seelen und deren Inkarnation. Ohne unser Italien wäre ein sinnliches Erleben in kongenialer Eintracht mit antiken Helden null und nichtig. Archive müssten aus Mangel an Büchern und Museen aus Mangel an Objekten geschlossen werden. Der deutsche Geist verkleinert sich auf unsichtbare Größe. Aber das Material an Dokumenten, gefüllt mit berauschender Weisheit ist Bibliotheken und Museen füllend. Über 200 Jahre mutiert zu Gewährstexten deutsch klassischer Italienbegeisterung wissenschaftlicher Kunst- und Kulturindustrie. Ein stetiger Versuch, nationales Bewusstsein aus der Verankerung deutscher Tradition in Italien abzuleiten.
Aber die Italienfreundlichkeit um 1800, hat ihre Grenzen. Archaische Regionen ohne Kontakte zur Außenwelt werden gemieden. Das Arkadische ist in Mode, kann jedoch nicht geortet werden. Die pneumatologisch deutsche Seele hängt, scheinbar elektrostatisch aufgeladen, wie eine schwere Wolke über urbanisierter Landschaft und kann nicht weiterziehen. Alle sind sich sicher: hinter Neapel hört die zivilisierte Welt auf zu existieren, regiert das Böse ohne Sinn für Feingeistiges. „Auch ich in Arkadien“ nicht in Kalabrien.
2015 ist es auch Zeit für mich, die Reise nach Italien, dem Reich der Bildung anzutreten. Lernwege und kollektive Absprachen verpflichteten mich dazu. Natürlich auch aus Freude und Lust auf das Wiedersehen mit dem eigenen Fremden. Aber weder die Denkmodelle klassischer Fremdwahrnehmung von Sehnsucht, Wehmut und lustvoller Enttäuschung des Herrn Heine, noch eines Herren Goethe, welcher Italien als Museum der eigenen Bildung sah, noch die Körperwahrnehmung des Herrn Seumes, Wandern in der Fremde als Ausrufung der „Männlichkeit“, reizten mich. Literarisches Erbe autogeographischer Entdeckungen als Diskurs zur italienischen Ästhetik, haben mit meiner Identitätsbestimmung wenig gemeinsam. Nicht die Abhandlung zur Identität der Ausgangsbegriffe von Orts- bzw. Objektbestimmung interessierten mich, vielmehr der Effekt bzw. die Nachwirkungen dieses Diskurses. Die „Verleugnung“ der Existenz ganzer Regionen im kollektiven Gedächtnis und deren Aburteilung als „Orte des Bösen“ erschienen mir in meiner Arbeit als Dokumentararchäologe ertragreicher.
„Et in Arcadia ego“ die klassischste lateinische Phrase in der Reiseliteratur. Sinnbild der Einkehr und Heimkehr auf klassischem Boden, im Land der Künste. Klarheit erlangen, über seine schöpferischen Kräfte. Den Schlüssel zum Paradies finden – Arkadien im Geiste, eine Landschaft als Kunst der Vollkommenheit. Geträumt „als Modell einer Welterschaffung, wovon sie so lange redeten, woran sie so gern anschaulich machen möchten, was in ihrem Innern herumzieht“, hier fanden sie es, zeichneten und schrieben.
Doch hinter Neapel war Schluss mit der Lust aufs Reisen. Im Räuberland Kalabrien, in den Bergen und Wäldern des Aspromonte herrschte Anarchie und Wildheit. Das Rohe, Ungeschliffene musste nicht entdeckt werden. So entwickelte sich in dieser dunklen Abgeschiedenheit ein Männerbund, der 200 Jahre nach dem Besuch der Deutschen in Italien zu einer der mächtigsten und effektivsten kriminellen Organisationen der Welt heranwuchs, die `Ndrangheta. Clans verschiedener Familien agieren verdeckt weltweit und vertreiben klassische Mafia-Produkte. Entführungen, Entsorgung, Erpressung, Handel, Geldwäsche sind profitable Geschäftszweige dieser prosperierenden dunklen Industrie.
Als 1973 der Milliardär-Enkel John Paul Getty III von der `Ndrangheta entführt wird, schneidet man ihm ein Ohr ab, um der Forderung von 17 Millionen Dollar Nachdruck zu verleihen. Fünf Monate später kommt er frei und die `Ndrangheta ist nun weltweit einer medialen Öffentlichkeit bekannt.
Nach einer Familienfehde richten 2007 in Duisburg Clanmitglieder sechs `Ndrine vor einem italienischen Restaurant hin und das Dorf San Luca im Herzen Kalabriens, aus dem Opfer und Täter stammen, rückt weiter in den Fokus der Journalisten. Über das Dorf, nun zur Schaltzentrale der `Ndrangheta stilisiert, berichten die Medien nichts Gutes. Eine äußerlich archaisch wirkende Lebensweise bestimmt den Alltag der Bewohner. Frauen und Männer gehen getrennt ihrer Wege, kaum Jugend, Distanz zu Fremden. Nichts Einladendes lässt den Besucher länger hier verweilen. Der Reichtum, vermutet man, wird in den Häusern gehortet, Geld und Gold in Überfluss – eine Schatzkammer im Verborgenen. An diesem Ort begann mein Projekt „Des Dokumentararchäologen Blick über Brandwunden Arkadiens“. Ich setzte mich hinweg, über die seit Jahrhunderten anhaltende Angst vor dem Kulturlosen, Barbarischen. Über das hartnäckig gepflegte Vorurteil, vererbte kriminelle Energie sei fest im Code aller Kalabresen verankert. Ich hinterfragte kulturelle Werte und Traditionen mythischer Rituale, archaisches Liedgut und moderne Literatur, Gesten, Posen und Bewegungen von Tänzern und ihrer geheimen Sprache als bindender Moment sozialer Systeme. In dieser Region archäologischer Vernachlässigung, wollte ich ansetzen, um Material zur Erweiterung mnemonischer Archive zu sammeln, Lücken des Wissens zu schließen und klischeehafte Erwartungshaltungen der Konstruktion einer fiktiven Fremde zu enttarnen. Ein Denken in Schablonen, welches die vielen Goethes auf ihren unvollendeten Reisen hinterlassen hatten und sicher einen Teil der Mitschuld ertragen müssen, dass sich diese Region als Schnittstelle des Transferverkehrs globaler Geldwäsche etablieren konnte. Mein Arbeiten vor Ort, ist mit der Hoffnung verbunden, dass meine Bilder die Kette der noch jungen Tradition wider die Korruption verlängert und auf die Fülle der „arkadischen“ Schönheit Kalabriens hinweist. Die „verstoßene Tochter“ in ihrer auratischen Schönheit erkennt und in die Familie teutonischer Geistesgröße als erweiterter Sehnsuchtsort aufnimmt.
“er faselte von lauter Mariohlen, wie er sie nannte, die gar fürchterliche Leute sein sollten und von denen er erschreckende Dinge erzählte. Als ich mir eine Beschreibung der Kerle ausbat, sagte er, man wüßte nicht woher sie kämen und wohin sie gingen, sondern nur was sie täten; sie plünderten und raubten und schlügen tot wo sie könnten; gingen zu Dutzenden bewaffnet, und erschienen und verschwänden ohne sich um etwas zu bekümmern.”
„Das Erlebte in Form bringen“, fordert Herr Seume, „so, wie die Realität ist“, hat in der Nacharbeit seiner Italienreise Priorität. Herr S. formuliert sein Sinnen deutlich mit den Worten „In Romanen hat man uns nun lange genug alte, nicht mehr geleugnete Wahrheiten dichterisch eingekleidet, dargestellt und tausend Mal wiederholt“ Er tadelt das nicht, meint aber “es ist der Anfang, aber immer nur Milchspeise für Kinder“. Wahrheit ist Männersache. In seiner Einführung zum „Spaziergang nach Syrakus“ bemerkt er: “Wir sollten doch endlich auch Männer werden, und beginnen, die Sachen ernsthaft geschichtsmäßig zu nehmen, ohne Vorurteil und Groll, ohne Leidenschaft und Selbstsucht. Örter, Personen, Namen, Umstände sollten immer den Tatsachen als Belege sein, damit alles so viel als möglich aktenmäßig würde“. Männlichkeit als Anspruch ernsthafter Arbeitsweise. Da hatte ein Arkadien, wie verklärend es seine Zeitgenossen sahen, keinen Platz.
Trotz seiner „Männlichkeit“, Herr S. war immerhin 155cm groß, blieben einige Regionen auf seiner Reise, bewusst oder unbewusst ausgelassen. Zwei drei Räuber, seinetwegen. Aber Kampffelder größeren Ausmaßes, wie sein Kalabreser Freund ihm einige Landschaften beschrieb, ist keine müde Wanderstunde wert. Zudem, an solchen Örtlichkeiten verbirgt sich selten Anmut von kulturellem Wert. S. erinnert sich auch gehört zu haben, dass Napoleons Truppen kurz hinter Neapel stoppten, da alles was noch käme „als Affenwald“ keiner Mühe der Eroberung wert sei. Auch Goethe stoppte in Neapel, bestieg ein Schiff um schneller auf oder besser in Arkadien zu landen. „Das Land, wo die Zitronen blüh´n – auch ich in Arkadien“ schrieb er später. Erinnert sich zudem mit schaudern an einen Kalabresen, der wild gestikulierend in die Gaststube hereinstürmte und mit unschönen Lauten vor einem Erdbeben warnte, aber die Anwesenden mehr durch sein Aussehen verschreckte als vor dem Ereignis selbst.
Arkadien, wenn es diese Kopfgeburt überhaupt gab, dann bestimmt nicht dort, wo dieser Wilde herkam. Aber für Herrn Goethe war der oder das „Wilde“ nicht der größte Ungeist seiner Zeit. Vielmehr verspürte er ein Unbehagen in der Missdeutung seiner Begrifflichkeit im eigenen Land. Sein Arkadien wurde von Romantikern verklärt. Diese Schwärmer und Lustredner. „krank im Gemüt“, wie G. sie wahrnahm. „Das Klassische“, sagte G. einmal zu seinem Eckermann „nenne ich das Gesunde und das Romantische das Kranke“.
Ein geträumtes Bild ist für Seume kein Ziel. Sein gelebter Traum, „erfühlt“ er im Moment „sinnlicher Ekstase“. Herr S. will greifen, riechen, schmecken und fühlen, was vor ihm 2000 Jahre die Menschen der Antike erleben durften. S. ist kein Entdecker oder Abenteurer, vielmehr fühlt er sich als Dokumentarist. Für ihn sind die „Recherchen zum Augenschein“ und deren Glaubwürdigkeit an Fakten redlich verdienter Lorbeer. Unmittelbarkeit ist ihm mehr wert, als das „Vergnügen“ sich am Ziel im Arkadischen als Schafhirt ewig zu langweilen.