Grabungen
Lady Kenyon seziert in der Fläche, gräbt am Objekt, bewegt sich in den Zeiten vor Ort. Monsieur Braudel sondiert den Raum und erweitert den Horizont der Geschichtsarbeit. An der Oberfläche befindet sich, meint Herr B., die Geschichte der Ereignisse, die histoire événementielle. Aber Geschichte lässt sich nicht verstehen, wenn nur diese letzte Ebene betrachtet wird, vielmehr erscheinen die menschlichen Ereignisse wie bloße Wellen auf der Oberfläche des Stroms der Geschichte, ohne deren tieferen Grund zu berühren.
Thomas Jefferson, der grabende, dritte Präsident Amerikas, berichtete über das Leben und Sterben der Indianer in seinem “Notes on Virginia“, 1785. 1784, noch 150 Jahre vor Lady Kenyons vorbildlich angelegten stratigraphischen Erdarbeiten, beschrieb er in seinem Lagebericht zu Virginia, dass er quer durch einen Hügel einen Graben gestochen hatte, um in Erdschichten besser lesen zu können. Zum Glück befand sich direkt auf seinem Grundstück, Monticello, ein kleiner Mound-builders. Dieser erhob sich wie ein Pickel aus glatter Landschaft. Ihm wäre der Hügel gar nicht aufgefallen, zumal dieser durch Rodung und Urbanisierung fast eingeebnet war, wenn nicht hin und wieder eine Gruppe von Indianern diesen Ort „besuchte, ohne vorher Erkundigungen über denselben einzuziehen. Sie verweilten dort einige Zeit mit Anzeichen der Betrübnis“. „Woher die ursprünglichen Bewohner Amerikas stammen, ist lange ein Gegenstand der Untersuchung gewesen“. Vielleicht lag im Kern der Haufen die Antwort auf das Fragen. Man hatte schon einige Hügel geöffnet um hineinzuschauen, war sich aber uneins, wonach und wie man suchen sollte. Marodierende Indianer jedenfalls galten als zu primitiv solcherart Bauwerke zu erschaffen – also konnte nur ein längst vergangenes Volk der Urheber solcher Leistungen sein. Jefferson war der Erste, der methodisch bei seiner Grabung an den Hügeln vorging. Er wollte nicht nur Objekte finden, sondern hoffte in einem stratifizierten Profil Erdschichten zu erkennen, die auf eine ursprüngliche Nutzung hinwiesen….
„Zuerst grub ich an der Oberfläche an verschiedenen Stellen und stieß in Tiefen von drei bis sechs Zoll auf Ansammlungen von Menschenknochen. (…) Nun grub ich senkrecht in den Hügel, um seinen inneren Bau zu erforschen. (…)Ganz unten lagen Gebeine, darüber Steine, die von einer Meile entfernten Klippe zu stammen schien; dann folgte ein großer Zwischenraum aus Erde, dann wieder Gebeine und so weiter. (…) Jedermann wird sogleich einsehen, daß dies kein Ort der im Kriege Gefallenen sein konnte“
Fernand Braudel, ein Annales-Historiker gab den Tiefen des Raumes einen neuen Stellenwert. B. vermutete, dass Gesellschaften vor allem dadurch geprägt sind, wie sie in ihrer Geschichte mit oder gegen die jeweiligen Umstände ihres Lebens-Raums, zum Beispiel der Geohistoire gehandelt haben. Sein Hauptinteresse galt somit nicht der Ereignisgeschichte, sondern er orientiert sich an der fast unbeweglichen Zeit der Naturerscheinungen. Er konzentriert sich auf zeitlose Phänomene und beschreibt etwa, dass in der Regel Bergbewohner konservativer sind als die Bewohner der Ebenen oder dass die Adria immer eine Kulturscheide war.
Braudel geriet im Frühjahr 1940 in deutsche Kriegsgefangenschaft. In Vorlesungen 1941 an den sogenannten „Lageruniversitäten“ formulierte er seine Fragen zur „Geschichte des Mittelmeers im 16.Jahrhundert“. „Unter diesem Titel wollte ich aber nicht bloß die Geschichte der Regierungen und Kriegsflotten, der Wirtschaftssysteme, Gesellschaften und Zivilisationen schreiben – also all dieser prächtigen Vergangenheiten , sondern ebenso die monotone, aber starke und reichhaltige Geschichte der permanenten Zwänge, die sich aus dem Relief, dem Boden, dem Klima und dem Lebensmilieu ergeben“, (…) „Was aber ist, wenn einfache Wetterentwicklungen wie Frühlingsschübe nicht bloß den Lebensrhythmus der Bauern – was ja selbstverständlich ist -, sondern auch, wie ich glaube, den Handel und die – große Geschichte bestimmt haben? Wurde im 16.Jahrhundert auch im Winter gekämpft?“
Braudel´s Konzept richtete sich damit gegen die Ausschließlichkeit einer Geschichtsschreibung, die bislang ihre Aufgabe darin sah, Geschichte von Persönlichkeiten her zu schreiben und Staatsgrenzen festzulegen. Der Geostrategische Raum findet hier weniger in seiner staatlichen Verfügbarkeit als in seiner Wirkung auf Mensch und Gesellschaft Berücksichtigung. Braudel´s Geohistoire ist daher eher als eine Art Gegendarstellung zu begreifen, die auf Deutungen einer Geographie von Staatsgrenzen administrativer Einheiten spezialisiert war. Stattdessen den Raum „mit dem, was er trägt, was er hervorbringt, was er den Menschen erleichtert und wo er ihre Pläne durchkreuzt“ in den Blick nimmt. Herr Braudel filtert das Bild unserer Geschichte somit nicht aus geschlagenen Schlachten und Siegerposen, vielmehr aus Abformungen unter- und überirdischer Erdschichten. Ein Dokumentararchäologe der ersten Stunde.
Herr B. und das Paradox des Gedächtnisses (memoire involontaire)
Doch ist der Fund laut B. gefunden, transformiert er „technisch zum Befund“ und „medial zum Bild“. Trotz sinnlicher Replik, so B., hat der Fund in Kürze seine Aura verloren. Ist in die „nüchternen Gemächer unserer späten Einsicht“ abgewandert. Archiviert in unserem Gedächtnis, nur ambulant und gewissermaßen als Zwischenspeicher der Vergangenheit. Dennoch ist der Moment der „unwillkürlichen Erinnerung“ ein süßer. Fast schon eine Droge. Ermöglicht der Moment doch den Ausgang der Recherche, den schöpferischen Akt. Den Zugang zur vollständigen Erinnerung, den Zugang zur Wahrheit der ewige Augenblick.