Kulturöffentlichkeit ex- und implodiert
Blickt man auf die Kulturöffentlichkeit in der Digitalisierung, ergibt sich ein paradoxes Bild: Kulturöffentlichkeit explodiert und implodiert; Ur-Anliegen der Aufklärung sind eingelöst und gefährdet; Plattformen und Algorithmen sind Instanzen der Selbstbestimmung und der Fremdbestimmung; menschliches Verhalten reagiert auf Codes der Natur, der Kultur, der Gesellschaft und der Maschine. Wenn Kultur als das öffentliche Verhandeln von Werten in der Digitalisierung neue Formen finden muss, sind alle diese Codes im Spiel. Von der DNA bis zur Robotersteuerung, von der ursprünglichsten zur avancierten Buchhaltung, von der erzählten bis zur errechneten Zukunft, vom Drehbuch im engsten bis zum Drehbuch im weitesten Sinn – immer handelt es sich um Formen der „Geschriebenheit“ von Geschichte und Geschichten. Der Erkenntnis folgend, dass in der Überwölbung von alten durch neue Kulturtechniken klassische Lese-, Erinnerungs- und Schreibarbeit noch wichtiger wird, offeriert der Band einen Rundgang durch Schlüsseldebatten der Digitalisierung; eine Feldforschung in den sich wandelnden Feldern der Kulturöffentlichkeit; und eine Bilder-Sammlung zur Frage der Geschriebenheit der Welt, der Kunst und der Gesellschaft.
2009, die Inbetriebnahme neuster Bild-Technik hat längst vorbehaltlos Einzug in museale Welten gehalten, wird dem British Museum eine Tontafel früher Keilschrift übergeben. Der Assyriologe Irving Finkel erkennt den Inhalt der Schriftzeichen sofort. Hier wird die Sintflut beschrieben, inklusive einer Bauanleitung zum Bau eines Rettungsbootes. Gott sagt; „Du sollst ein Boot bauen“, „zeichne es vor und fertige es rund“, rette das Leben, „Paarweise“. Jede Zeile im Ton ist Goldwert für den Wissenschaftler. Herr Finkel glaubt, ja er muss glauben, dass er die Keilschrift zum Leben erwecken kann. Die Worte Gottes sind mathematisch klar formatiert, befehlen Finkel das Boot zu bauen. Und Herr Finkel baut das Boot.
Aber nun wieder 150 Jahre zurück, in die Anfangszeit der ergebnislos geführten Debatten über die Eingliederung von Fotoarbeit in den Wissenschaftsbetrieb. Hier wurden noch weitere Anmerkungen zur Problematik praxisorientierter Prozesse der Fotografie in Alltag, Wissenschaft und Kunst disputiert. Vor allem der Sinn und Zweck dieses neuen Mediums musste erfasst, gezähmt und die Kamera als “unbelastetes“ Instrument definiert werden.
Eines dieser “Probleme” formulierte der uns schon bekannte Photokritiker Oliver Wendell Holmes. Möglich, dass er der erste Bild Theoretiker war, der Mitte des 19. Jhdt. die Photographie mit einer Gedächtnis Metapher ausstattete. Er beschrieb sie zunächst als „Spiegel mit Gedächtnis“, erkannte aber gleichzeitig die Gefahr, dass in der Ablichtung des Moments eine „Beliebigkeit der Aussage“ verankert sei. Will man sich der Wahrheit verpflichten, müsse daher schnellstmöglich eine Ordnung im Rausch der Bildproduktion, wider schneller Entwertungen etabliert werden. Mehrdeutigkeiten sollten vermieden und Auf- bzw. Vorgaben für die Ablichtung klar definiert sein. Das bedarf rigoroser Reglementierung. Normen mussten formuliert, Brennweiten bestimmt, Motive klassifiziert und Bilder mit einer detaillierten Beschriftung versehen werden. Nur so, meinte Herr H., könnte die Wildheit der Hydren technischer Bildproduktion gebändigt und zur Wahrheit gezwungen werden.
Später, in Hinsicht auf die Erweiterung neuer Bildformate, und bestimmt nicht in ihrer Wildheit gebändigt, betrachtet Herr Lambert Wiesing, ein Wahrnehmungs- und Bildtheoretiker Anfang der 2000er Jahre, prinzipiell im Bild „das Fehlen der Möglichkeit, wahr zu sein“. Sind Abbildungen überhaupt in der Lage, kontrolliertes Sehen zu erzeugen? Oder anders: „Ob man einem Bild Wahrheitsansprüche zu- oder abspricht, entscheidet sich nicht durch das Bild selbst, sondern durch die Vorentscheidung, das Bild als eine Sichtweisen-Darstellung oder als eine Sichtbarkeitsgestaltung aufzufassen. Ein Bild als die Darstellung einer Sichtweise zu deuten, ist das Ergebnis einer bestimmten Interpretation, ohne die sich die Frage nach der Wahrheit nicht stellen würde. Wenn die reine Sichtbarkeit zu einer selbständigen Form des Seins geworden ist, kommt diese Interpretation aber an ihre Grenzen. Die Frage nach der Bild-Wahrheit ist dann so abwegig, als befragte man einen normalen Gegenstand.“
Und Schlussendlich sind Bilder, meint L, nur als „designerische Leistung“ aufzufassen. „Ein Bild – je nach Standpunkt wird man dies als geistige Armut bedauern oder als Befreiung von unberechtigten Ansprüchen verteidigen -, welches nur um der Sichtbarkeit willen besteht, nimmt für sich nicht in Anspruch, mehr zu sein, als zu sehen ist, obwohl mehr zu sehen ist, als real vorhanden.“
Der Dokumentararchäologe dokumentiert demnach nur das Motiv der Geschichte als „designerische Leistung“. Hält so die „Tat“ fest im Bild, ist nur Zeuge des Geschehens. Dokumentararchäologie ist Handwerk.
Das behutsame häuten und fixieren von Schichten, wie Anfangs als lächerlicher Traum dem lachenden Philosophen Demokrit angeboten, ist die Fotografie endlich als natürliche Körperlichkeit in ihrer treuen Untreue zum Detail als Weltsicht anerkannt. Wahrheiten können durch Bilder zwar nicht erwartet werden, aber wir sehen Ausschnitte der Wirklichkeit und imaginierte Innerlichkeit. Sie verweisen auf Unsichtbares und Äußeres, auf Nähe und Ferne, Vertrautheit und Fremde, offenbaren uns so die permanente Spaltung des Seins. Dies kristallisierte sich erst durch die Struktur von Kunst aus ihrem chaotischen Sein heraus. So wissen wir nun auch, dass die Wirklichkeit nicht existiert, sondern nur viele Wirklichkeiten. Was heißt, dass es exakt gleich so viele symbolische Systeme der Verständigung über die Welt gibt. Handelt es sich bei dem Gesehenen um Wirkliches oder um ein Bild des Wirklichen…