Eine kleine Sammlung von Reputationen zur Dokumentararchäologie
Herr Otlet, der erste Dokumentarist
Paul Otlet hat eine Vision. Welchen Wissenssprung könnte die Menschheit entfalten, wenn Sie Telefonleitungen, Radio, Schellackplatte und Kino miteinander verbindet und Speichereinheiten des Wissens, frei verfügbar an jedem Ort der Welt abrufen könnten? Nur so, als Idee. Noch muss O. per Hand auf kleinen Karten Querverweise notieren, Dokumente und Bücher indizieren, indexieren, phrasieren und Verschlagworten. Viel Kopfarbeit, wenig Technik. Noch dazu sind diese Crypten allein von einer Kaste lesbar. Verwalter des Wissens, die sich unabkömmlich fühlen. O. lehnt sich mit seinem Denken weit aus dem Fenster. Vernetzungen global, in dieser Größenordnung? Eigentlich undenkbar. O. denkt aber. Entwickelt eine Datenerfassung, abstrahiert Wissen. Teilt Informationen in Segmente, verknüpft alles zu einem Datenstrahl bibliographisch kondensierter Potentiale und nennt seine Arbeitsweise dokumentarische Methode symbolischer Operationen. Sein Netz ist zwar nicht digital, aber mit Hilfe der Technik, Dokumente auf winzig kleine Planfilme zu transformieren, den sogenannten Mikrofiche, einen großen Schritt weiter seine Utopie zu verwirklichen. O. gründet ein Museum, nennt es Mundaneum, und setzt diesem Haus das Ziel, nicht weniger als das gesamte Schrifttum der Welt als Bibliografie in Zettelkästen zu erfassen. Ein universelles Dokumentations- und Denkzentrum. O. denkt praktisch. Noch benutzt er nicht den Begriff Schnittstelle, „Interface“ für seine Arbeit der Wissensgenerierung. Aber die Prozesse des Auflösens, Wiederzusammenfügens und Übermittelns von Buchbestandteilen, grafischen und anderen Dokumenten, werden ihm folgend später so beschrieben. Das „Interface“, das Bild, die Oberfläche des Rechners, unser aller WWW, als neu ausgehandelte Form abstrahiertem Wissens.
O. erschafft eine institutionell verwaltete Zettelwirtschaft mnemonischer Bildwelten, in der nicht ein Mensch Datenräume erschafft, sondern ein künstliches Kollektivhirn. Ein Hirn, als universell zugänglicher Datenraum. Noch denkt O. in Hierarchien, möchte die alten Kasten nicht abschaffen aber zum Umdenken animieren. Er schlägt vor, dass Nationale und internationale Dokumentationsinstitutionen die Vereinheitlichung der Erschließungs- und Erfassungsmethoden koordinieren, welche anschließend durch sein Mundaneum als administrative Oberorganisation kontrolliert werden könnten. O. stellt fest, dass in Tausenden von Bibliotheken Tausende von Menschen dieseleben Bücher aufnehmen und ordnen, logisch also, dass diese Arbeit nur einmal an einer zentralen Stelle organisiert werden müsste. Das würde erheblich Ressourcen unnützer Kopfarbeit sparen und Denkarbeiter für wichtige Aufgaben freisetzen. O. beginnt mit der Arbeit. Viele Daten müssen erfasst und Platzhalter für kommendes Wissen freigehalten werden. 18 000 000 Karteikarten erstellt sein Team. O. hat alle ihm zugänglichen Medien einbezogen. Nicht nur Bücher. Alle Daten sind zu Wegweisern des Wissens vom Wissen mutiert und warten darauf, den Weg hinaus aus den Karteikästen in die Köpfe der Menschheit zu finden. Ihr Charakter besteht zwar nicht darin, Weisheit zu entfalten, aber sie zeigen durch kluge Stichworte an, wo das Wissen zu finden ist. Dafür entwickelt O. den Begriff der Dokumentation. O. ist somit Vater der Suchmaschine und Bauherr einer ersten hypermedialen Architektur des Wissens, lange vor der globalen Vernetzung der Menschheit im WWW.
1937 formuliert Paul Otlet, der Begründer einer moderne Dokumentationswissenschaft, auf dem ersten Kongress der *F*ederation *I*nternational de *D*ocumentation: „gemeinsamer Geist schafft Wissen. Ausdruck, Dokumentation, konstruieren dessen Repräsentation. Dies führt zum Handeln. Dokumentation erfasst Elemente, die ein Ganzes formen.“
Herr W. und die Ordnung des Wissens
Die Familie Warburg sind Juden und patriotische Deutsche, betreiben in Hamburg ein angesehenes Geldinstitut und lassen ihrem Aby freie Hand bei dem, wofür dieser sich berufen fühlt. Der kleine Aby liest für sein Leben gern in großen staubigen Büchern, riecht gern am Leder und hat die Schlüssel für den „Giftschrank“, dem Speicher verbotenen Wissens, längst gefunden. Seinen Brüdern trotzt er ein Versprechen ab, ihn für alle Zeiten mit Büchern zu versorgen, die er wünscht. Die Brüder bleiben ihrer Bank treu, verdienen das Geld und Aby darf wirklich ohne Wenn und Aber per Blankoschecks in Büchern schwimmen. Herr W. gründet eine Familie, baut ein Haus und für seine Bücher eine Bibliothek. Eine Bibliothek die offen für alle ist, die Denken nicht nur in ihrer Freizeit betreiben. Eine Denkfabrik für Spezialisten. Ein Thinktank mit neuem Denkansatz für die Verarbeitung aller zur Verfügung stehender Daten. Weltweit, ohne Beschränkung. Für seinen Büchersaal entwickelt W. ein Ordnungsprinzip aus „sprechenden Zeichen“ in dem jede Information universal erfasst ist. Dieses Erfassen und Positionieren seiner „sprechenden Zeichen“ bestimmt er zum „Gesetz der guten Nachbarschaft“ und alle konnte so die Anordnung des Wissens produktiv begreifen. Jedoch eine Voraussetzung musste der Besucher nach Eintritt in den Büchersaal beherzigen. Zum Ziel kam man nur mit W. gemeinsam auf geistiger Wanderschaft. Sein Vordenken wies den Weg durch das kartographierte Universum gepflasterter Denkwege.
Ernst Cassirer, dem das Aufstellungssystem der „guten Nachbarschaft“ in Warburgs Bibliothek erläutert wurde, kommentierte das Erkenntnispotential dieser Systematik mit dem Satz: „Diese Bibliothek ist gefährlich für mich, entweder meide ich sie oder ich muss mich für Jahre in ihr einschließen“
Aby Warburg
trifft sich mit dem neuen Kepler, Herr Einstein in Scharbeutz.Wann, fragt sich Aby, setzt das moderne Denken ein? Und wie kann ein solcher Moment Form finden? … So kreisen seine Gedanken um die Figur des Astronomen Kepler, welcher als erster die althergebrachte Überlegenheit der idealen Kreisform durch die Akzeptanz der Ellipse ersetzt hatte. Durch Kepler, vom Altertum direkt in die Moderne. W. ist überzeugt von seiner Entdeckung, braucht aber noch den Rückhalt in der Wissenschaft.
Herr W. ist voller Vorfreude. Zwar ist er weit entfernt, über all seine Kräfte zu verfügen, aber die Nachricht gibt ihm Zuversicht. Soeben ist ihm ein Treffen mit dem Heroen der Wissenschaft ermöglicht worden. Gleich morgen soll es losgehen. Vier Stunden Fahrt mit Frau und vier schweren, speziell für seinen Vortrag bei Albert Einstein erwählter mnemonischer Tafeln. Sein Fahrer wird ihm helfen müssen, die Last zu tragen. Vom Auto in das Zimmer des Jahrhundertgenies ist es nicht weit. Irgendwo und irgendwie wird es eine Möglichkeit geben, die Bilder zu platzieren. Nur so, glaubt W, kann E. seine revolutionäre ästhetische Einordnung der Entdeckung durch Keplers Berechnungen der Raumverschiebung vom Kreis zur Ellipse der Bewegung von Mars erfassen. Zwei Tage ist es her, dass W. seine Gedanken an E, mit der Bitte um ein Treffen notierte hatte und zur Post bringen ließ. Und nun die blitzschnelle Antwort. So schnell hatte sich W. das Aufeinandertreffen mit E. im Traum nicht vorstellen können. Nun ist W. erst recht überzeugt, einem gleich gesinnten Kopf zu begegnen, der seine „heroische Bildhaftigkeit“ versteht. Zudem, eine Bestätigung Einsteins seiner Arbeit, wäre der größte Lohn jahrzehntelanger Arbeit.
Die Tafeln sind schnell montiert. W. und sein Fahrer pinnen die mannshohen Pappen an die schweren Vorhänge der großen Fenster. E. ist beeindruckt und begierig die Erläuterungen seines Gastes zu empfangen. Nun ist er auch mal Schüler. Hört zu. Fragt gegen. Nickt. Dreieinhalb Stunden spricht W. vom ästhetischen Schein der Welt und des Alls. Dann nimmt E. ihm den Bleistift aus der Hand und zeichnet eine Ellipse aufs Papier. Der Physiker erläutert nun seine Sicht keplerischer Berechnung langgezogener Kreise der Planetenbahnen im All. Seine Ellipse ist reine Wissenschaft. Klare Formel, kein Bild. Zudem sieht E. die Leistung K. auf anderem Gebiet maßgebender. W. ist etwas enttäuscht, lässt sich aber nichts anmerken. Jetzt hört W. zu. Nur zu. Vielleicht ist seine Krankheit daran schuld, dass er dem Vortrag nicht folgen kann. Er ist erschöpft. Schweift in Gedanken ab, denkt an seine Bibliothek in Hamburg. An sein Herzstück, dem Lesesaal. Elliptisch gestaltet, Formvollendet. Nachempfunden der Berechnung Keplers von der Bewegung des roten Planeten. Ein schönes leuchtendes Rot. Mars, der blutige Krieger. Milliarden Jahre wandelnd, treutreibend in seiner Bahn, fest verankert in der Unendlichkeit des Raums. W. denkt an K, das Genie, der den Weg wies, die Bewegung der Sterne zu berechnen. Aus einem Salat an Zahlen den Schwung der Sterne herauslesen konnte. Steife Nummern in fließende Formen gossen.
Bild: Einsteins Skizze vom Elliptischen
„Lange hat Mars den Bemühungen der Astronomen standgehalten, jedoch der treffliche Heerführer Tycho hat in 20jährigen Nachtwachen alle seine Kriegslisten erforscht und aufgezeichnet. Dadurch ermutigt, habe ich, Kepler, es unternommen, die Stellen, wo sich Mars befindet zu erforschen und mit Hilfe der Mutter Erde umging ich alle seine Krümmungen. Mars hat endlich meine Herzhaftigkeit eingesehen, die Feindschaft aufgegeben und sich treu gezeigt“
Herr Einstein doziert indes immer weiter. Er hält den Stift fest in der Hand und kreist über der Zeichnung. Er sagt, dass er beeindruckt ist vom Geist des alten Kepler. Weniger an der Formsprache seiner Entdeckungen, mehr an den Zahlen. Zahlenfolgen, Formeln. Ihn fasziniert die Methode von K, wie dieser über Umwege der Beobachtung von Mars, gedankenexperimentelle Rückschlüsse auf die Bewegungsbahn der Erde schließen konnte. „Die wahre Leistung Keplers“ meinte der Physiker und vollendet seine Skizze, „ist Keplers wirklich geniale Entdeckung der Erdbahn durch den Mars“. Er blickt sein Gegenüber erwartungsvoll an. Doch dieser ist in sich gekehrt, blickt abwesend. Vielleicht ist der Gast in einer Bilderwelt versunken. So sensibel so viele Muster und Formen im Geist, da ist die Abwesenheit in der Realität verständlich. Die Pause der Stimmen tut beiden gut. Schweigen schafft transzendente Verbindungen, die nicht in einer Sprache zu binden sind. Ein kreatives Schweigen. Vor ihnen liegt die Zeichnung mit Punkten, Linien und Kreuzen über der Ellipse auf dem Tisch. Eine Zeichnung zwei Ansichten. Die Fenster hinter den schweren Vorhängen sind etwas geöffnet. Ein leichter Luftzug lässt die schweren Pappen an den Stoffen reiben. Nur leicht, kaum zu hören.
W. notiert nach dem Treffen mit E: „Verstand zu wenig“. Er ist enttäuscht über die Weigerung Einstein*s, den „ästhetischen Prägewert“ von *Kepler*s Kosmologie zu erkennen. In einem Brief an seinen Mitarbeiter *Fritz Saxl formuliert Herr Warburg das Missverständnis so: „Ich fuhr gestern mit meiner Frau nach Scharbeutz und fand einen geradezu heroisch kindlichen Mann, der tatsächlich von diesem Mutterboden der Bildhaftigkeit und der denkraumformierenden Magie nichts wusste (…) meinen Bildern folgte und unter steten unerbittlichen Nachfragen die Stichhaltigkeit meiner Schlüsse prüfte. Nur bei Kepler und der Ellipse habe ich, glaube ich, nicht gut bestanden; sonst war er mit mir zufrieden“.
Während der Astrologe das Weltall einerseits im nüchternen Liniensystem klar und harmonisch erfasst (…), beseelt ihn vor seinen mathematischen Tafeln doch eine atavistische abergläubische Scheu vor diesen Sternennamen, mit denen er zwar wie mit Zahlzeichen umgeht, und die doch eigentlich Dämonen sind, die er zu fürchten hat. aus Herrn Warburgs Heidnisch-antike Weissagung in Wort und Bild
1929 stirbt Aby Warburg. 1930 veröffentlicht Einstein in der Frankfurter Zeitung einen Artikel zu Keplers Ellipsenberechnung. Mars, Erde und eine Zeichnung, welche aber im Artikel nicht abgedruckt ist, beschreiben zwar nicht das Treffen zweier Wissenschaftler in einem Seebad, gleichen aber den vier Stunden transzendenter Vereinigung zweier Geister, die in netter Dankbarkeit zueinander, jeder ihrer Wege gingen. E. spricht aus, schreibt nieder, was ihm wohl einige Zeit durch *Aby*s schweigen an diesem Tag, in diesem Zimmer übersendet wurde. Ein Gedanke, den der Theoretiker wohl nicht mehr loswurde. Ein Geist der ausgetrieben werden musste. „Dem Zahlenmann, der die Zahlzeichen, doch eigentlich Dämonen zu fürchten hat“.
Herr Vannevar Bush erweitert das Gedächtnis zum Memory Extender
Es ist interessant, dass erst Mitte der 1970er Jahre, durch die Wiederentdeckung der Denkleistung von Paul Otlet, der Beginn der Geschichte einer elektronischen Datensteuerung, genannt Internet, von den 2000ern hundert Jahre vordatiert werden musste. Scheinbar hatte die beschwörende Idee von O, der Geschwindigkeit aufkommender Wissensflut technisch durch Abstraktion Herr zu werden, keinen Nährboten gefunden. Schon vor O. hoffte man durch Erstellen erster Enzyklopädien typografischer Raffung, Wiederholungen zu vermeiden um Platz zu sparen und Wissen zu konzentrieren. Dem Sammler von Informationen fiel jedoch auf, dass diese Form der „Bändigung des Wissens“ keine Zukunft haben wird. Zu viel Neues häufte sich. Archive und Depots quollen über. Dokumente wurden nicht gelesen, Kisten nicht geöffnet. Wissen entschwand aus den Regalen des täglichen Bedarfs noch vor ihrem Verfallsdatum.
Bush ist Otlet nie begegnet. Und eigentlich stand B. der Idee der hierarchisch-bürokratischen Strategie der Informationsorganisation kritisch gegenüber. Während O. ein „mechanisch, kollektives Gehirn“ als eine Instanz auf Führungsebene sieht, ist B. offener gegenüber den Wissensstrukturen. Sein Interesse gilt der Technik der Wissensverwaltung. B. nennt sich daher Informatiker. B. ist Handwerker, genauer Ingenieur. Er entwickelt Visionen wie Bilder und Texte codiert und zeitnah entschlüsselt werden können. Bush` große Sorge, dass sich Wissen durch eine explodierende Akkumulation selbst verschüttet. Vergeht doch zu viel Zeit zwischen Akquise relevanter Daten und deren Auswertung. Ergebnisse einmal ermittelt, sind bei ihrer Veröffentlichung schon veraltet und haben nur noch Wert für die Statistik. Hoffnung gäbe es. Herman Hollerith erfindet die Lochkartenmaschine. Datenfressend, Datenspuckend in unglaublicher Geschwindigkeit. Ein kaltes Ding, das unabhängig der Qualität des Bildes Muster ins Papier stanzt und ohne Emotionen richtet. Holleriths Maschinen sind groß und teuer. Zu groß und zu teuer, denkt B, Schade. Aber es gibt ja Fotofilme in klein. Für den Voyeur ideal, den Mikrofilm. Ein Medium auf dem genügend Speicherplatz zur Verfügung steht. Damit könnte die menschliche Kultur unendlich miniaturisiert werden. Hier könnte der Nutzer sein Wissen ökonomisch zelebrieren und Pfeilschnell abrufen.
B. denkt nur auf dem Papier, baut niemals einen Prototyp seiner Denkmaschine. Seine Idee bleibt analog. Aber einen Namen für seine Maschine hat er schon. Er nennt sie Memory Extender, zu Deutsch; ein Gedächtnis-Erweiterer. Memex denkt nicht in Bildern, Memex verwaltet Bilder. Fast zusammen, bildet Cluster, findet Trails, induziert so neue Inhalte. Nicht der Kopf arbeitet, sondern reine Mechanik. Hebel und Knöpfe bedienen Lampen und Motoren. Digital zu denken, war ihm nicht vergönnt. Noch nicht.