Herr W. und sein ordnendes Prinzip der Mnemosyne
Dem zusammengesetzten Begriff Dokumentararchäologie steht eine antike Technik der Gedächtniskunst Pate. Demnach ist mit diesem Synonym die griechische Mnemotechnik als erlernbare Fertigkeit gemeint, das Vergessen des Vergangenen abzuwenden. Die Kunst besteht darin, alles was für eine Kultur als erinnerungswürdig gilt in Bild, Zeichen und Form zu übersetzen. Im höchstem Maß unglaubliche Errungenschaften des Heldischen zu materialisieren. Dabei ist die Rhetorik in unterschiedlichen Medien entscheidend und liefert zuverlässig Instruktionen des Merkens für die Nachwelt. Wider dem Vergessen durch Imagination. „Ausschmückungen“ werden im Geiste Substantiell und formen sich zu Baustoffen eines virtuellen Museums.
Herr W. denkt in Bildern. Er will im Kunstwerk emotionale Energie tanken und diese Dynamik als rationale Aneignung in ein pendelndes Gleichgewicht bringen. Er ist sich sicher, dass Kunst sich nicht linear und chronologisch entwickelt und beruft sich dabei auf Prägungen im Gedächtnis außerhalb des allgemein vereinbarten Kontextes der Kunst- und Kulturgeschichte. Er will den wahren Urgrund des Bildes ausfindig machen. Einen Mnemosyne-Atlas gestalten, welcher in seiner engen Nachbarschaft von Bildfindungen neue Räume und Zugänge zu Interpretationen schafft, um das „kollektive Unbewusste“ zu erschließen. Herr W. ist, so bestimme ich es jedenfalls, der erste Dokumentararchäologe par excellence. Sein Bildfindungsatlas, denkt W, ist aktiver Generator der Denkräume schafft und Bilder sprechen lässt. Bildräume sollten sich verselbständigen, den Künstler in den Hintergrund treten lassen und ein kreatives Potential, eine Denkbewegung beim Betrachter provozieren.
W`s. Welt leidet unter einen „Verknüpfungszwang“ wichtiger und unwichtiger Details. Freunde wollen ihm helfen, aber das hilft ihm nicht. Seine Zettelkästen quellen über von Fragmenten und Einzelheiten. Er will mit seiner Bibliothek dem Digest der Bücher auf die Spur kommen, an das Zentrum der Weisheit gelangen. Doch W. verliert sich mehr und mehr. Das Ordnungssystem der Kästen wird komplizierter, ist zu eng mit seiner Persönlichkeit verbunden. Er beginnt sich zu teilen. Er leidet darunter, dass er die Ordnung des Wissens nie auf den Punkt bringen wird. Zu viele Einträge, zu viele Daten, zuletzt 50 000. Herr Warburg erkrankt und wird auf Jahre psychiatrisch betreut. Er schreit, schlägt und schimpft. Die Produktivität seiner Denkzellen fährt runter auf null. Der Akku ist leer. Das Denken schmerzt. Er will nur Ruhe.
Das hilft. Nicht denken, nur Sein. Bald schon hat er wieder Kraft. Abys Geist geht auf Neustart und rebootet sich vollständig. Zurück gekehrt in das Haus seines Scheiterns, sieht er klarer. Er kann sich wieder in komplexe Vorgänge und historische Strukturen eindenken. Plötzlich beherrscht er die Kunst der Beschränkung.
W. befreit seinen Blick und trennt sich von der inneren Zensur, seiner Schere im Kopf. W. sieht wieder kristallklar mit Augen eines Kindes. Ein ideologiebefreites Sehen als Ursprung der Kreativität. Er vertraut der Unabhängigkeit von Bildern. Enthierarchisierung des allgemein gültigen kunstgeschichtlichen Materials. Antiintellektuelles, unverbildet kindlich assoziatives Bildverständnis, welches auf Entdeckung und Erinnerung an Verschüttetes verloren geglaubter Energien für die Genese und Vermittlung eigener, neuer diskursiver Zusammenhänge steht. W. füllt seinen Speicher, sieht in die Zukunft. Sein Museum müsste „Kraftwerk“ sein, ein Wissensgenerator nicht Wissensspeicher. Museum als Raum, in dem der Abstand zwischen Geist und Bild direkt und energiebeladen ist. Ein Ort, an dem die Zweisamkeit der Atmosphäre wie verzaubert ist.
In seiner Bibliothek verdeutlicht er diesen Ansatz. Er entwickelt verschiebbare, von ihm zusammengestellte Wandtafeln. Fast 70 Stück. Bilder über Bilder. Plastiken, Gemälde, Plakate, thematisch gebunden. Der Betrachter wird von einem passiven Zuschauen zur Aktion „gelockt“. Das „autonome“ Kunstwerk löst sich auf, es bilden sich Cluster „demokratisch“ verwalteter Regionen. Scheinbar Chaotisch ordnen sich Inhalte. Das Orchester hat sich gefunden, der Dirigent gibt den Takt.
W`s. Tafeln sind Reaktoren. Durch seinen Blick in die Tiefe, reaktiviert er den Ballast verschütteten Gedenkens an Verlust und Niederlage „feiger Helden“. Transformiert verschwundenes Wissen zu einem semantischen Gedächtnis kollektiver Erinnerung. Erfasst schwimmende Bilder im unsichtbaren Raum. Bilder, die ohne Haftung über unzugänglichen Zeithorizonten schweben. Der mündige Denker bestimmt die Selektion, nicht der „General“. W, gibt seine Bilder frei, bestimmt aber die Methode des Sondierens. Er ist ein Denkarchäologe, der verwaiste Zugänge zum Vergangenen freilegt und selektierte Erinnerung in einem kreativen Prozess reaktiviert. Sein Theater bestimmt die Anordnung der Bilder, überlässt jedoch die Inszenierung dem Betrachter. Einen mündigen Betrachter, der die Aufführung im Epilog vollendet.
Das Bild, das wir hervorbringen, ist das Selbstverständnis einer Offenbarung, real und konkret,
ein Bild, das von allen, die es nicht durch die nostalgischen Brillengläser der Geschichte anschauen,
verstanden werden kann Barnett Newman, 1947
Über die Bildqualität als mnemonischer Energieträger
Herr W. erkennt bestimmte archetypische Ausdrucksformen des menschlichen Wesens, von der Antike über die Renaissance bis zu späteren Bildformen. Und geht davon aus, dass es ein europäisches Bildgedächtnis gibt, welches sich zeitunabhängig in bestimmten Körperumrissen feststellen lässt. Dieses nennt er „Pathosformel“. Das charakteristisch verdichtete Bild, löst im Organismus des Menschen einen physiologischen Prozess aus, das ihn in seiner bildschaffenden Tätigkeit mit der urbildhaften Gesetzmäßigkeit der Lebenswelt verbindet. W. geht davon aus, dass der heutige Mensch die früheren Kulturen anthropologisch in sich trägt. Ein wohl sehr ideell aufgefasstes Zivilisationsbild mnemonischer Energie. Wohl vertraut Herr W. auf die Triebkraft der Form, dieser linearen Eigenaktivität der Bilder. Bilder, welche Ereignisse nicht illustriert oder dokumentiert, sondern Geschichte erzeugen können. Bilder, so weiß es Herr W. wirken gefühlsbetonend, erkennend und wahrnehmend und dürfen in ihrer Ausführung nicht gewöhnlich und blass sein. Sie müssen, um Gedächtnisbildend in ihrer Affektivität Wirkung zu erreichen, dramatisch überzogen, wenn nicht gar hässlich oder im Gegenteil sphärisch schön sein. Bilder müssen sich in ihrer Qualität an die Aktivierung der menschlichen Gefühlsebene messen lassen.
Worte zu dem zu finden, was man vor Augen hat – wie schwer kann das sein.
Wenn sie dann aber kommen, stoßen sie mit kleinen Hämmern gegen das Wirkliche,
bis sie das Bild aus ihm wie aus einer kupfernen Platte getrieben haben. Herr Walter Benjamin
Digitale Maschinen entscheiden über das Vergessen. Die Dokumentararchäologie in der Pflicht.
Wer schnellen und bleibenden Eindruck machen will, bedient sich der Bilder
Otto Neurath 1933
Im digitalen Zeitalter divergiert das antike Wahrnehmungsverfahren der Mneme. Heute sind Bilder eher „visuelle Argumente“. Sie dürfen nicht langweilen, Lautstärke als Sprache. Wurden vormals Ereignisse sinnlich erfahrbar transformiert, lassen heute die inflationären Bild-Zeichen-Formproduktionen Mnemoniker überflüssig werden. Und die Sprache der Mnemonik ist leise. Doch wer leise spricht, den hört man nicht. Ungehörtes wird vergessen und über das Vergessen entscheiden heute Maschinen. Intellektuelle Tätigkeit wird ausgeschlossen und die Arbeit einem virtuellen Speicher überlassen. Durch die technische Reproduzierbarkeit von Bildern wird die Zugänglichkeit und Verfügung von diesen grundlegend verändert. Der Mensch lebt nicht mehr nur mit den Bildern der Gegenwart sondern auch mit den historischen Bildern der Vergangenheit. Das Gedächtnis verteilt und vermengt sich auf verschiedenen Bildebenen, die sich durch die medialen Bedingungen permanent verändern und ähnlich eines Palimpsests neu formieren. Möglich, dass so Vergangenheit niemals überdauern wird aber zumindest in den Rahmenbedingungen einer kulturellen Gegenwart durch die Arbeit des Dokumentararchäologen rekonstruiert werden kann.
Der gegenwärtige Medienwandel ordnet und verwaltet nicht nur die Formen des Erinnerns neu, sondern auch die Formen der Speicherung. Die Erinnerungen, welche in unserem derzeitigen kulturellen Gedächtnis gespeichert sind, entwickeln sich zu Erinnerungen eines wachsenden medialen Bildergedächtnisses im World Wide Web. Der Rezipient erinnert sich nicht mehr AN Bilder, sondern IN Bildern. Bilderbetrachtung im Zeitalter der medienverwaltenden Elektronik, verändert nicht nur die Technik der Bildrezeption, sondern hat grundlegenden Einfluss auf die Sicht der Geschichte und damit verflochtene Erinnerungsbilder. Diese Bilder zu orten und in einen autorisierten Zwischenspeicher zu dokumentieren, in welcher Form auch immer, ist ein weiteres Anliegen der Dokumentararchäologie. Denn wie gesagt, die Beliebigkeit des Netzwerks erinnert nur IN Bildern, transformiert, zensiert, verlinkt unablässig neu, vernachlässigt Ungeliebtes. Wir aber müssen uns AN Bilder erinnern können um auch in Zukunft noch den barrierefreien Blick auf die Motive der Vergangenheit fokussieren zu können.