Antike Speicher versus digitale Ortung
Welchen Einfluss aber hat dieser fundamentale Wandel auf die Verwalter der Museen, die legitimiert durch ihre Ausbildung und intime Kenner der Bestände, allein befugt waren diese auszulegen? Geschützt durch die Institution Museum mit ihrem hohen wissenschaftlichen Prestige und ihrer Glaubwürdigkeit standen sie in der Hierarchie der Wissensproduzenten weit oben. Das Internet gestaltet Sammlungen nun für Alle zugänglich und demokratisiert deren Interpretation. Wäre/Ist, diese Öffnung wirklich ideal? Sollten Besucher an der Auslegungsarbeit ausgestellter Dinge und Themen gleichberechtigt beteiligt sein? Sollte ein Dialog der richtige Weg sein, gemeinsam Sammlungen zu erschließen und nicht den Besucher zu belehren? Social Tagging oder als Hybrid Folksonomy, sind neuste Codewörter, die den Versuch bezeichnen, Archivalien online zu stellen und sie von Internetnutzern frei verschlagworten zu lassen. Die klassischen Wege der Wissensproduktion und –verbreitung stehen ebenso zur Disposition wie die Expertise der Fachwissenschaftler in den Sammlungen, die nun ihre Archive entmaterialisiert einem anonymen Netz wider „kontrollierter Vokabularien“ zur Verfügung stellen müssen.
Im Zeitalter der universellen Informatisierbarkeit aller Daten geht so natürlich die Materialität verloren, verschwindet die Erfahrungsebene der Realität. Das Internet ist eher ein Kommunikationsmedium innerhalb sozialer Strukturen statt klassisches Speichermedium. Das zeigt sich durch Verbreitungs- und Darstellungsformen, wie Chats, Postings und Webseiten, Techniken der Modulation, die sich immer wieder neu als Träger von Erinnerung und Gedächtnis formatieren. Das Internet erweist sich somit als Gedächtnismedium und ist nur vorübergehend als Speicherort für Mediatoren interessant, welche auf Interaktion und Distribution angewiesen sind. Ein mnemonisches Memory im Dauereinsatz, das bestehende Kultur transformiert und diese in einem „konspirativen“ erschaffenen Prozess wieder und wieder neu interpretiert. So sind wir mehreren Wahrheiten, dem Relativismus eines Jean-Francois Lyotard und seiner Dekonstruktion großer Erzählungen nah wie noch nie. Es zeigt sich deutlicher denn je, dass die Ursache für das Verschwinden der großen Wahrheit in Auslöschung der klassisch bürgerlichen Öffentlichkeit begründet ist, welche einer postmodern-massendemokratischen Denkfigur weicht. Auch manifestiert sich in der sich rasant entwickelnden Netzkultur ein Primat der Struktur, welches Intellektualität nur in verschiedenen Verfallsformen zulässt.
„Das Projekt der Moderne ist gescheitert.
Die großen Erzählungen müssen aufgegeben werden, an ihre Stelle tritt eine Vielfalt an Diskursen
als isoliertes Spiel der Sprache ohne gemeinsames Maß“
resümiert Herr Lyotard
Archäologie des Dokumentarischen, eine Praktik des Gegendokumentarischen
Die Denkfigur der Archäologie setzt eine verschüttete Vergangenheit voraus, die als Ziel der Erinnerungsarbeit an den geborgenen Objekten haftet. Jene unbewussten Spuren, die die Vergangenheit hinterlässt, werden in der Gegenwart wirksam, indem sie die Basis für immer neue Konstruktionen bilden. Vergangenes transformiert sich zu neuem Sehen und öffnet viele Perspektiven. Unter anderem die der Bildsprache und Codierung, Formung und Design, Demokratisierung des Wissens, Brisanz und Selektionspraxis durch Ideologien. Das Erinnern bleibt dynamisch, weil es im Rekurs auf die Spurenfindung einen Gegenwartsbezug herstellt. Bleibt nur die Frage nach der Effizienz der wissenschaftlichen Praxis und deren Methoden. Außer Frage, dass diese Forschung im Kontext von Wissenschaft durch einen fachspezifisch ausgebildeten Dienstleister übernommen wird. Kreativarbeiter leisten in diesem Diskurs eher spekulative und subjektiv verwertete Empfindungen als Ergebnis einer Recherche. Daher frage ich mich, welche Möglichkeiten Außenseiter abseits der wissenschaftstheoretischen Normen leisten können, verwertbares Material in diesem Diskurs einzubringen? Gerne zitiert, der Narr. Scheinbar naiv interveniert dieser symbolisch interaktionistisch im Zeitgeschehen. Beantwortet brisante Fragen gern hypothetisch in einer offenen Inszenierung als Skeptiker unter der Maske des Irren oder ist einfach nur tragischer Hanswurst. Der Zirkelschlag zur Kunst und dem Künstler ist dabei nicht weit. Je nach Rolle des Künstlers im Kollektiven Verständnis, ist dieser eher aktiv oder passiv in Prozesse der Wissensreflexion eingebunden und anerkannt. In jedem Fall gern gesehen als „seismographischer Sensor“ der Demokratisierung von Wissen und neutraler Beobachter der Zeit, geschult im Sehen und aufspüren relevanter Historie und sozialer Tatsachen. Künstler sind Transporteure antiker Bildformen der Erinnerung ins Jetzt und Heute, Reanimatoren des unterbewussten Wissens im kollektiven Gedächtnis der Zeit.
Gedächtnis-Metaphern haben aus diesem Grund eine lange Tradition. Gedächtnis und Erinnerung entziehen sich durch ihre Immaterialität dem unmittelbaren Zugriff der Wissenschaft. Das Nachdenken hat Tradition in der Schaffung von Denkmodellen und Bildern. Wir können den Gegenstand wie die Memoria nicht ohne Metaphern in ihrer Konsistenz von Bildfeldern denken. Tatsächlich durchziehen nur zwei Metapherntypen die abendländische Geschichte der Erinnerungs- bzw. Gedächtniskultur. Gedächtnis als Speicher, als Wachstafel oder Archiv. Beide Bildfelder existieren seit der Antike parallel und werden zu unterschiedlichen Zeiten mit verschieden Medien verknüpft. Im Gedächtnis als Speicher werden zudem beide Ebenen mit dem Unbewussten verbunden, dass Spuren alles Erlebten unverändert bewahrt und ständig aktualisiert.
Der gedächtnistheoretische Gebrauch von Metaphern lässt nicht nur schwer Verständliches leichter zugänglich erscheinen, er hat auch inhaltliche Konsequenzen. Die Wahl der Metapher bestimmt, wie gedacht wird, so dass immer wieder andere Gedächtnisse zum Vorschein kommen. Die verwendeten Bildflächen spiegeln dabei die Zeit und die Kultur des jeweiligen Geistesklimas im kollektiven Gedächtnis. Metaphern sind wie Fossilien, sie helfen den „Leser“, die Historie zu ermitteln, in der er diese antrifft. In ihnen verknüpfen sich Zeit- und Raumdarstellungen zu komplexen Bildflächen.
Die Metapher der Archäologie hebt einige Merkmale von Erinnerung und Gedächtnis besonders hervor. Sie ist Garant erweiterter Möglichkeiten der Etablierung von Geschichtswissen in narrativer Form und evoziert durch ihre Arbeitsweise, dass sie immer zum harten Kern der Dinge, zur „Hardware“ des Wissens vorstoßen kann. Archäologie erschließt zudem materielle Ressourcen als Trägerterm abstrakter Zusammenhänge und erscheint dadurch als Authentizitätsverstärker.
Der Topos in der Dokumentararchäologie
Ein Erinnerungsort bezeichnet den Gedächtnisort als Sitz der Argumente. Er ist ein sichtbarer „imaginierter“ Ort. Ein sogenannter Gesichtspunkt, ein mnemotechnisches Hilfsmittel zum Auffinden geeigneter Gedanken. Er ist sichtbar unsichtbar und in dieser Unschärfe symbolisch funktionell.
Im Mittelalter nutzt die Mnemotechnik didaktisch aufgeladene Datenräume, welche auch dem Lesen Unkundige zugänglich sind. Allegorisch zu lesende Figuren werden als Symbole etabliert. Schemabilder machen Glaubensartikel einprägsam. Im Folgenden tritt das Kirchenbild als mnemonisches Medium in Erscheinung. Der imaginäre Raum ist zur gemalten Bildfläche geworden, der Glaube materialisiert. Die Tradition dieser Kodierung ist bis heute maßgebend und wird von einer Gemeinschaft gefordert. Nicht nur als Ort mit referentiellen Charakter, vielmehr als Orte der Weihe und Kontemplation. Andachtsräume sollten Beherzigung bewirken.
Durch die Beschleunigung der Geschichte und Hinterfragung von Sentimentalitäten, modulierten sich Topoi neu und formierten sich zu Datenträgern des Wissens. Der imaginäre Raum der Transzendenz wurde dem Wissen frei zugänglich erweitert, trainiert auf Einprägen und Erinnern. Diese „Freiheit“ setzt jedoch den verankerten Willen eines authentischen
kollektiven Gedächtnisses voraus. Nicht als Substitut, vielmehr als lebendige Sprache.
In diesem Sinne versteht sich die Dokumentararchäologie als Transformator bzw. konzeptuelle Weiterentwicklung gekappter Denkprozesse. Im Gegensatz zur konventionellen linearen Geschichtsdarstellung werden bei dieser Form der Aufarbeitung mnemonische Bildwechsel arrangiert, in denen sich Inhalte und Elemente von Vergangenheitsbezügen vielfältig überlagern. Ziel ist es, selbstreflexiv Erinnerungsorte über ihre bloße Rekonstruktion hinaus zu dekonstruieren und somit eine Form der Demystifizierung verordneter Symbolgeschichte entgegen zu setzen.
Über die Natürlichkeit der Bilder
Seit es die Menschheit gibt produziert sie Bilder. Materiell und immateriell. Bilder sind kommunikative Muster wider statischer Natürlichkeit. Natur ist Bild, wie auch der Mensch nur ein Bild der Natur ist. Aber nur wir können Bilder lesen und speichern.
Natürlich ist der Mensch der Ort der Bilder. Wieso natürlich?
Weil er ein Ort der Bilder ist, gleichsam ein lebendes Organ für Bilder
Hans Belting, Medienthoretiker über den Homo Pictor
Was aber bedeuten Bilder für die Menschen, die in verschiedenen Kulturen aufwachsen und von ihnen geprägt werden? Immerhin gibt es Kulturen und Religionen, bei denen das Bilderverbot fest in einer Weltsicht und in einem Wertesystem verankert ist. Wer Bilder von Gott oder einer übernatürlichen Macht fertigt, will Macht, will Gott und damit den Menschen beherrschen. Wer also die Bilder besitzt, besitzt Macht, regiert die Zeit, ordnet den Raum.
Dokumentararchäologie hinterfragt dieses Selbstverständnis, mischt sich ein, saugt sich fest am Digest der Macht. Will reformieren. Insofern ist der Dokumentararchäologe ein politischer Künstler, stellt jedoch sein Produkt frei. Will nicht beweisen, will keine klärenden Antworten. Der Dokumentararchäologe positioniert sich. Bestimmt Orte monolithisch gleichgeschalteter Bilder, markiert Schnittstellen. Formuliert kreatives Fragen auf seinen Wanderungen durch die Zeit, hebelt am Fundament, pflügt versiegelte Flächen, reaktiviert die Enteignung der Dinge und ihrer Bilder. Die Dokumentararchäologie plädiert dafür, ein lineares Denken in der Bildwissenschaft aufzugeben und eigene Positionen immer wieder zu reflektieren. Hierzu schreibt B; “Fachinterne Theoriebildung mit Drang zum geschlossenen System, mit der vor allem die jungen Fächer den Beweis ihrer Wissenschaftlichkeit zu erbringen suchten, steht diesem Ziel eher entgegen. Eine Öffnung für andere Fächer, auch um den Preis professioneller Selbstdarstellung, dient ihm dagegen“
In der Einleitung zu „Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst“ aus dem Jahr 1990, fordert Hans Belting nachdrücklich einen interdisziplinären Ansatz, um den „tieferen Zonen der Erfahrung, in welche die Bilder reichen“ gerecht zu werden. Über Kulturbilder lasse sich nur reden, meint B, „wenn man eine historische Argumentation wählt und sie in dem Kontext aufspürt, in dem sie ihren wahren Part ausübt“. Eine Forderung, der sich auch die Dokumentararchäologie stellt.
Die Dokumentararchäologie
vertraut der Natürlichkeit von Bildern, vertraut den lebenden Organ und seiner Archive. Der Dokumentararchäologe verpflichtet sich, die Methoden der Speicherung und Formen der Archivierung zu hinterfragen. Er misstraut den Beschriftungen. Die Dokumentararchäologie ist keine Wissenschaft aber der Dokumentararchäologe gebraucht Werkzeuge der Wissenschaft. Die Dokumentararchäologie ist Kunst und bedient sich aller Formen des Erkennens und Vermittelns. Die Dokumentararchäologie beschreibt in aller Förmlichkeit den „Schnitt entlang der Zeit“ und bestimmt dadurch, was Wahrnehmung grundsätzlich ausmacht und wie das Erkennen verlustfrei gespeichert werden kann. Der Dokumentararchäologe ist ein Entdecker. Und als Entdecker des Neuen ist er Rezipient und Produzent zugleich, geeint im Bruch zur Distanz und bedingungsloser Hingabe. Was aber wird in der Distanz „entdeckt“? Was ist der Auslöser für die Bedingungslosigkeit des Eifers, der Reiz sich einer „Erscheinung“ zu nähern? Und überhaupt, was ist davor passiert, was provozierte diese Unklarheit? Die Dokumentararchäologie bestimmt keine neuen Wahrheiten. Die Dokumentararchäologie formuliert neues Fragen mit den Methoden des Gegendokumentarischen.